Digitale Technologien spielen eine wichtige Rolle, um das europäische Stromnetz intelligenter und effizienter zu machen. Ein virtueller Zwilling soll dazu beitragen, innovative Lösungen für das Smart Grid zu entwickeln und Investitionen in das Netz zu koordinieren. Wir haben Peter Vermaat, Generalsekretär der EU DSO Entity, gefragt, wie das funktioniert.
Wenn wir uns ansehen, wie gut die europäischen Stromnetze für die Energiewende vorbereitet sind, in welchen Bereichen besteht Handlungsbedarf? Auf welche Prioritäten konzentrieren Sie sich?
Um das Netz zukunftssicher zu machen, müssen wir es ausbauen, denn durch die Elektrifizierung haben wir schlicht mehr Verkehr im Netz. Aber wir müssen das System auch von einer Einbahnstraße in ein bidirektionales Netz umwandeln, einschließlich der Erleichterung von Flexibilitätsmechanismen. Denn der größte Teil der erneuerbaren Energien wird auf der Verteilerebene in das Netz eingespeist – bis zu 70%. Wir müssen also nicht nur das Netz ausbauen, sondern es auch intelligenter machen, damit die Verbraucher von ihrer Position im Netz aus ihren Beitrag zur Energiewende leisten können.
Das klingt in erster Linie nach einer technischen Angelegenheit?
Ja, ich denke, es geht um eine Menge technischer Fragen. Aber wie ich schon sagte, wir verteilen nicht nur Energie, wir fördern auch den Markt. Bei der Regulierung, den Marktsignalen und der Marktentwicklung ist es wichtig, dass wir neue Prioritäten setzen und eine gute Richtung einschlagen, um zum Beispiel Flexibilität zu erleichtern und einen echten Markt dafür zu schaffen. Das Ziel ist, nicht alles technisch über das Netz zu regeln, sondern dass der Markt und die Prosumer ihren Teil beitragen können, um die erneuerbaren Energien zu integrieren.
DSO Entity arbeitet mit ENTSO-E, dem Europäischen Verband der Übertragungsnetzbetreiber, zusammen, um gemeinsam einen digitalen Zwilling des europäischen Stromnetzes zu entwickeln. Warum brauchen wir einen digitalen Zwilling und wie sieht der aus?
Der digitale Zwilling wurde sehr oft als Beispiel für die Digitalisierung und insbesondere für den zukünftigen Netzbetrieb verwendet. Das Ziel des digitalen Zwillings ist es, die Netzmodellierung zu optimieren, um bessere Entscheidungen über Investitionen und für den Betrieb treffen zu können. Im Grunde handelt es sich um ein virtuelles Abbild des Netzes, ein virtuelles Modell. Es kann verschiedene Entwicklungsstufen haben, z. B. in Bezug auf die Funktionalität, die Transparenz oder den Umfang. Ich denke, dass es bei dem Projekt, das wir gerade entwickeln, sehr wichtig ist, uns die erforderliche Funktionalität genau ansehen. Wir müssen den digitalen Zwilling so gestalten, dass er wirklich den angestrebten Zwecken dienen kann, und die von der Europäischen Kommission festgelegten Ziele erfüllt.
Sie befinden sich also noch in der Anfangsphase der Planung. Welche Bereiche wird der fertige digitale Zwilling abdecken? Nur das Übertragungsnetz oder auch das gesamte Verteilnetz?
Das wird auch von den Dimensionen abhängen, die wir uns ansehen. Im Grunde genommen könnte er alle Netzebenen vom Übertragungs- bis zum Verteilnetz abdecken. Ich kann mir vorstellen, dass es für Übertragungsnetzbetreiber (TSO), die ein grenzüberschreitendes, europaweites Netz haben, sehr wichtig ist, alle grenzüberschreitenden Leitungen und die wichtigsten Landleitungen zu modellieren. Für Verteilnetzbetreiber (DSO) mit ihrer eher regionalen Struktur könnte es hilfreich sein, eine geeignete Auflösung zu finden. Vielleicht ist es nicht notwendig, ein Modell für 250 Millionen Netzanschlüsse zu entwerfen, aber vielleicht können wir eines auf regionaler Ebene entwickeln, das unseren Zweck erfüllt. Oder wir wählen einen Modellierungsansatz, der eine schrittweise Entwicklung ermöglicht. Ich denke, wir haben jetzt eine Vision, die aber noch weiter ausgearbeitet werden muss, bevor wir das Endprodukt klar definieren können.
DSO Entity hat über 900 Verteilnetzbetreiber als Mitglieder, viele davon aus Deutschland, wo wir unter anderem bei intelligenten Zählern sehr weit zurückliegen. Wie realistisch ist es, diesen riesigen Flickenteppich in ganz Europa zusammenzubringen?
Lassen Sie uns noch einmal auf die Definition des digitalen Zwillings zurückkommen. Wir könnten darunter lediglich die Modellierung des Netzes verstehen. Eine andere Definition wäre, dass man auch die Ebene des Datenaustauschs betrachtet. Es geht also nicht nur um ein Modell, sondern um den Datenaustausch zwischen TSOs und DSOs und zwischen den DSOs untereinander, auch unter Einbeziehung der Verbraucher und des Marktes. Das Modell braucht also vielleicht nicht alle 900 Verteilnetze in ganz Europa mit ihren 250 Millionen Anschlüssen abdecken. Aber ich denke, wir können schon einmal mit dem Austausch wichtiger Daten in relevanten Marktgebieten oder regionalen Zonen beginnen und das Modell dann schrittweise mit den nächsten Ebenen oder Schichten weiterentwickeln. Für die Verteilnetze könnte also ein modularer Ansatz besser sein.
Es handelt sich also nicht unbedingt um einen Einblick in Echtzeitdaten, sondern um ein Modell, das vergleichende Daten usw. verwendet, wenn keine Echtzeitdaten verfügbar sind?
Ich denke, beide Visionen sind richtig. Der erste Schritt könnte darin bestehen, dass es sich nicht um Echtzeitdaten handelt, sondern um eine Modellerstellung, die zu besseren Entscheidungen führt. Die nächste Stufe könnte sein, dass Sie betriebliche Entscheidungen auf der Grundlage von Echtzeitdaten treffen können. Eine weitere Stufe könnte schließlich helfen, Entscheidungen vorausschauend zu treffen. Man könnte den digitalen Zwilling also nutzen, um verschiedene Szenarien zu analysieren. Das ist es, was ich mit einem modularen Ansatz meine: Sie können die Funktionalität des Modells in mehreren Schritten ausbauen und seinen Umfang erweitern.
Sie sprachen von drei verschiedenen Ebenen des Modells. In welchen Zeitspannen könnten diese realisiert werden?
Das hängt auch davon ab, wie wir vorankommen, z. B. bei der Kooperation mit anderen europäischen Programmen. Abgesehen davon ist es für den Zeitplan auch wichtig, zwischen den beiden Schwerpunkten des Programms zu unterscheiden.
Neben dem digitalen Zwilling gibt noch ein weiteres Ziel, nämlich die Entwicklung von Smart-Grid-Indices. Diese sollen den DSOs und TSOs bei Investitionsentscheidungen helfen, um das Netz intelligenter zu machen. Das ist wichtig, denn man kann nur dann einen voll funktionsfähigen digitalen Zwilling aufbauen, wenn auch das Netz selbst intelligent ist. Die Entwicklung des digitalen Zwillings und des Smart Grids müssen parallel laufen.
Es geht also auch darum, zu erkennen, wo Investitionen benötigt werden, und um sie in die richtige Richtung zu lenken?
Ja, genau. Und dafür sind vor allem die Smart-Grid-Indices wichtig, die sowohl Input- als auch Output-Indikatoren umfassen. Die Input-Indikatoren werden dazu beitragen, die Investitionen in die richtige Richtung zu lenken, während die Output-Indikatoren die Vorteile eines intelligenteren Netzes aufzeigen und somit auch neuen Input für die Weiterentwicklung des digitalen Zwillings liefern.
Welche Nutzen können wir vom digitalen Zwilling erwarten?
Wenn man sich die längerfristigen Vorteile ansieht, gibt es eigentlich fünf Bereiche, die abgedeckt werden müssen. Ein sehr wichtiger Aspekt ist die Transparenz des Netzes. Was passiert im Netz und müssen wir Maßnahmen ergreifen, um dies zu kompensieren?
Ein weiterer wichtiger Bereich, ist die bessere Entscheidungsfindung bei Investitionen – nicht nur, wann in die intelligente Gestaltung des Netzes investiert werden soll, sondern auch wo. Denn anhand der Kapazitätsauslastung können wir besser analysieren, in welchen Regionen Investitionen nötig sind. Und drittens ist es auch hilfreich, um widerstandsfähiger zu werden. Denn wenn wir eine bessere Netzmodellierung haben, können wir das Netz besser überwachen und z. B. Cyber-Angriffe abwehren oder im Falle eines Angriffs die Systeme schnell wiederherstellen.
Der vierte Punkt ist, dass wir das System aktiv managen können. Wenn wir einen besseren Einblick in das Netz haben, können wir es effizienter betreiben. Und schließlich, nicht zu vergessen, müssen TSOs und DSOs beim Datenaustausch sehr intensiv zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass das Netz als Ganzes, sowohl auf der Übertragungs- als auch auf der Verteilebene, stabil, zuverlässig und sicher ist.
Sie haben Smart-Grid-Indices als ein Instrument erwähnt, um Investitionen in die richtige Richtung zu lenken. Wie können die Netzbetreiber selbst davon profitieren?
Die Smart-Grid-Indices sind eine Hilfestellung für Investitionsentscheidungen. Ich denke aber, dass ein weiterer Aspekt wichtig ist, nämlich die Zusammenarbeit mit der Regulierungsbehörde. Die Entwicklung von Indikatoren für intelligente Netze steht also auch in engem Zusammenhang mit der Regulierungsbehörde, die die Effizienz von Investitionen beurteilen muss. Europaweit gültige Kennzahlen könnten sowohl den DSOs als auch den Regulierungsbehörden dabei helfen, ihre Investitionen für die Zukunft zu steuern.
Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview auf Englisch können Sie hier anhören.