Digitale Zwillinge verändern die Art und Weise, wie Verteilnetzbetreiber ihre Netze planen, betreiben und überwachen. Die Technologie kann die Effizienz steigern, Kosten senken und die Netzstabilität verbessern. Bei einem zunehmenden Anteil erneuerbarer Energien ist das unverzichtbar. Wir stellen Ihnen aktuelle Projekte, Einsatzgebiete und Voraussetzungen für die virtuellen Doppelgänger vor.
Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder physischer Systeme und eröffnen neue Möglichkeiten im Betrieb von Stromnetzen. Durch eine Kombination aus physikalischen Modellen, Datenanalysen und maschinellem Lernen können Verteilnetzbetreiber den Zustand ihrer Netze zu jedem Zeitpunkt präzise nachbilden und Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen treffen, erklärt die VDE-Studie „Der Digitale Zwilling in der Netz- und Elektrizitätswirtschaft“. Mit Hilfe der Zwillinge lassen sich Daten von Sensoren, Steuerungssystemen und anderen Quellen in Echtzeit auswerten und beispielsweise Lastflüsse simulieren oder Störungen erfassen und analysieren.
Für die European Association of the Electricity Transmission and Distribution Equipment and Services Industry (T & D Europe) spielen Digital Twins eine zentrale Rolle für die Energiewende. In einem Positionspapier vom Oktober 2024 nennt der Verband die mögliche Echtzeitüberwachung sowie die Analyse und Optimierung von Energieinfrastrukturen als wichtige Anwendungen. Auch für die Netzplanung und Analyse von Szenarien seien sie nützlich. Damit sei es möglich, die Netze effizienter, zuverlässiger und flexibler zu gestalten. Außerdem könnten die Digitalen Zwillinge helfen, erneuerbare Energien zu integrieren und smarte Netze zu realisieren.
Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien und der zunehmenden Dezentralisierung steigt der Bedarf für Digitalisierung im Verteilnetz. Ohne Automatisierung werden stark dezentralisierte Energiesysteme in Zukunft nicht mehr zu managen sein, denn die Netze müssen auf die fluktuierende Erzeugung von Wind- und Solarstrom flexibel und schnell reagieren können. Immer mehr Netzbetreiber setzen darum auf Digitale Zwillinge, um die Auswirkungen dieser Einspeisung besser zu verstehen und zu managen.
Unterstützung bekommen sie dabei von Softwareentwicklern. „Unsere Plattform erstellt zuerst einen digitalen Zwilling des Stromnetzes – das ist der entscheidende erste Schritt. Es geht nicht nur darum, verschiedene Daten des Netzbetreibers zu kombinieren, sondern sie auch inhaltlich zu validieren, so dass physikalische Simulationen möglich werden“, erklärt Simon Koopmann, Mitbegründer und CEO von Envelio, das auf die Realisierung intelligenter Netze spezialisiert ist und eng mit E.ON zusammenarbeitet.
Um Netzbetreiber bei der Überwachung und Steuerung von Stromflüssen auch in Echtzeit zu unterstützen, wird der Zwilling mit Messdaten aus dem Netz versorgt. „Das können Messungen aus Ortsnetzstationen sein, also Daten, die Netzbetreiber direkt erheben, beispielsweise von Transformatoren oder Abgängen. Aber es können auch Live-Messdaten von intelligenten Messsystemen sein, die als Zusatzleistungen von den Netzbetreibern von den Messstellenbetreibern eingekauft werden“, so Koopmann weiter.
Die von seinem Unternehmen entwickelte Plattform nutze diese Daten, um den Netz-Zustand zu schätzen. Natürlich messe man nicht an jedem Punkt im Netz – das wäre ineffizient. Stattdessen wolle man mit möglichst wenigen Messpunkten eine möglichst umfassende Transparenz über den Netz-Zustand erreichen. Die Steuerung des Netzes sei dabei nicht im Sekundentakt ausgelegt, sondern in längeren Intervallen, etwa auf Minutenbasis, wie es in Deutschland für den §14a EnWG gefordert ist. Das sei auch völlig ausreichend, weil das Netz nicht unmittelbar reagiere, wenn es für wenige Sekunden überlastet sei.
Alliander, eines der größten Netzunternehmen in den Niederlanden, und Siemens haben im Herbst 2024 eine Technologiepartnerschaft geschlossen. Ziel ist, die Flexibilität und Effizienz des niederländischen Stromnetzes maßgeblich zu steigern. Im Zentrum dieser Initiative steht die Gridscale X-Softwareplattform von Siemens, die eine Erweiterung der Netznutzung um bis zu 30 Prozent ermöglichen soll.
Alliander versorgt rund 3,5 Millionen Kunden mit Strom und Gas. Auch in den Niederlanden stammt mehr als die Hälfte des genutzten Stroms aus erneuerbaren Quellen. Dies erhöht die Anforderungen an das Verteilnetz deutlich. Hinzu kommen erhebliche Engpässe: Manche Kunden warten bis zu zehn Jahre auf einen Netzanschluss. In dieser Situation wird ein effizientes Flexibilitätsmanagement zur Schlüsselfrage, um Netzkapazitäten optimal zu nutzen, Investitionen gezielt zu lenken und Kosten zu senken. „Flexibilitätsmanagement ist essenziell für ein nachhaltiges und widerstandsfähiges Netz“, sagt Sabine Erlinghagen, CEO von Siemens Grid Software.
Die deutsche EnBW befasst sich ebenfalls mit dem Thema. Dafür übernahm der Energiekonzern aus Baden-Württemberg im vergangenen Jahr das Schweizer Unternehmen Enersis, das insbesondere im Bereich Smart Grids aktiv ist. Enersis bietet digitale Zwillinge als SaaS-Lösung an, die ein virtuelles Abbild von Verteilnetzen schaffen und mit Echtzeitdaten gespeist werden können. Bereits vor der Übernahme arbeitete die EnBW-Tochter Netze BW eng mit dem Schweizer Softwareentwickler zusammen und entwickelte gemeinsam die „KommunalPlattform“. Die digitale Schnittstelle soll die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Netzbetreiber und Kommunen fördern und zeigt beispielsweise Synergiepotenziale zu geplanten Baumaßnahmen auf oder macht Einspeise- und Verbrauchswerte transparent und vergleichbar.
Digitale Zwillinge können für vielfältige Aufgaben eingesetzt werden. Eine davon ist die vorausschauende Wartung, auch Predictive Maintenance genannt. Mit Hilfe von Sensordaten und vorausschauenden Modellen kann das virtuelle Netz Verschleiß und potenzielle Ausfälle prognostizieren, bevor sie zu teuren und aufwendigen Reparaturen führen. Das reduziert nicht nur die Kosten, sondern verlängert auch die Lebensdauer der Anlagen.
Durch die Analyse von historischen und Echtzeitdaten können zukünftige Lasten simuliert und das Netz gezielt optimiert werden. So kann der digitale Zwilling im Rahmen von Szenarienanalysen aufzeigen, wie sich verschiedene Einspeise- und Verbrauchsszenarien auf die Netzstabilität auswirken. Im E.DSO Technology Radar etwa wird die Relevanz solcher Simulationen hervorgehoben, um Engpässe zu identifizieren und Investitionen zielgerichteter zu planen.
Das hat auch Vorteile, wenn Netze erweitert oder neue Verbraucher und Erzeuger eingebunden werden müssen. „Automatisierte Abläufe, wie die Prüfung von Anschlussanfragen für PV-Anlagen oder Wärmepumpen, sparen massiv Kosten und entlasten Netzbetreiber angesichts steigender Anfragen. Statt neues Personal einzustellen, das oft schwer verfügbar ist, wird das Arbeitsaufkommen effizienter bewältigt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Optimierung der Netzkapazität. Durch präzise Überwachung und Steuerung könnten ungenutzte Kapazitäten aktiviert werden, anstatt mit konservativen Planungsansätzen zu arbeiten. Entscheidend ist auf allen Netzebenen, insbesondere den unteren, mehr Intelligenz und Transparenz zu schaffen, um die Infrastruktur optimal zu nutzen.
Digitale Zwillinge speichern und verarbeiten riesige Mengen sensibler Daten. Das macht sie zu potenziellen Zielen für Cyber-Angriffe, deren Zahl in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Laut EU-Kommissar Thierry Breton zielten allein im Jahr 2023 mehr als 200 gemeldete Cybervorfälle auf den Energiesektor ab, und mehr als die Hälfte von ihnen richtete sich speziell gegen Europa. Von Windparks über Energieversorger und Netzbetreiber bis hin zu Mineralöltanklagern – jeder kann betroffen sein. Entsprechende Schutzmaßnahmen sind darum essenziell.
Andererseits tragen die virtuellen Doppelgänger selbst zum Schutz der Energieversorgung bei. Sicherheitslücken und potenzielle Angriffsvektoren können im sicheren Umfeld des digitalen Zwillings identifiziert und getestet werden, bevor reale Netze betroffen sind, erklärt der VDE. Dadurch stärken digitale Zwillinge die Resilienz der Stromnetze gegen externe Bedrohungen.
In modernen, dynamischen Stromnetzen wird KI zunehmend zur Standardkomponente für digitale Zwillinge, denn sie macht die Systeme leistungsfähiger. „Mittelfristig wird die Entwicklung klar in Richtung KI-gestützte Anwendungen gehen, vor allem in Bereichen, die mit Prognosen zusammenhängen, etwa die Vorhersage des Netzzustands für den nächsten Tag oder die kommenden Stunden. Hier können künstliche Intelligenz und maschinelle Lernverfahren eine wichtige Rolle spielen, um beispielsweise den Leistungsfluss im Netz genauer vorherzusagen“, sagt Envelio-Gründer Koopmann. Für grundlegende Aufgaben wie die Leistungsflussrechnung im Netz braucht man KI seiner Meinung nach hingegen nicht. Trotzdem sei klar, dass in vorausschauenden Szenarien und bei komplexeren Prognosen KI-Methoden zukünftig unverzichtbar sein werden.
Sebastian Wende-von Berg, Abteilungsleiter am Fraunhofer IEE und Leiter des Gutachtens „KI in Stromnetzen“ des dena-Projektes Data4Grid, sieht denn auch in der Digitalisierung und KI große Chancen, um die Effizienz und Flexibilität der Stromnetze zu steigern. „KI ermöglicht es Netzbetreibern, Daten zu analysieren, vorausschauend zu handeln und Entscheidungsprozesse zu automatisieren – besonders in Mittel- und Niederspannungsnetzen.“ Sein Projekt Data4Grid zeigt dabei auch Herausforderungen auf: Fehlerhafte oder manipulierte Daten erschweren datengetriebene Prozesse.
Überhaupt sind die Modellierung und Pflege digitaler Zwillinge komplex. Sie erfordern einen hohen Aufwand an Datenintegration. Dazu gehören eine umfassende Datenerhebung und die Nutzung moderner Analyseplattformen. Für die Integration in bestehende Systeme müssen die Verteilnetzbetreiber sicherstellen, dass die Interoperabilität z.B. mit SCADA und GIS-Systemen gegeben ist, ihre Infrastruktur zur Echtzeitkommunikation fähig ist und die Datensicherheit gewährleistet bleibt. Dazu kommen regulatorische Vorgaben. Dies kann gerade bei kleineren Netzbetreibern die Kapazitäten bei Personal, Ressourcen und Know-how überschreiten.
Wende-von Berg fordert daher Investitionen in Messtechnik, Datenmanagement und Cybersicherheit sowie den dringend notwendigen Netzausbau. „Die Kombination aus intelligenter Technologie und robustem Netzausbau ist essenziell für eine nachhaltige Energiewende,“ resümiert er.
Von Frank Urbansky