„Die Auslastung im Verteilnetz liegt bei unter 25 Prozent“

Experteninterview – 17. April 2025

Prof. Jochen Kreusel, Global Head of Market Innovation bei Hitachi Energy und Präsident von T&D Europe

Die Verteilnetze in Europa sind oft veraltet, schlecht ausgelastet und ein Nadelöhr für die Energiewende. Sie müssen dringend modernisiert werden. Jedes weitere Warten verursache umso höhere Kosten in der Zukunft, warnt Prof. Jochen Kreusel. Im Interview spricht er über Investitionsstau und Resilienz, Engpässe bei der Modernisierung und wie sich die vorhandene Netzkapazität besser nutzen lässt.

Kreusel ist Global Head of Market Innovation bei Hitachi Energy und Präsident von T&D Europe, dem europäischen Verband der Ausrüster elektrischer Netze. Der Elektroingenieur ist zudem Honorarprofessor an der RWTH Aachen.

Interview mit Prof. Jochen Kreusel von Hitachi Energy über Zustand unserer Stromnetze

Kristian Ruby von Eurelectric hat bei der Eröffnung der The smarter E Europe 2024 in München gesagt, dass rund 30 Prozent der Verteilnetze in Europa älter als 40 Jahre sind und damit den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr gewachsen. Stimmt das?

Die Zahlen stimmen. Das Gros der Stromnetze in Europa wurde unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre gebaut. Nicht nur wegen der Kriegszerstörungen, sondern auch, weil die Elektrifizierung in dieser Zeit stark vorangetrieben wurde. Die Diskussion um die Erneuerung und die zu geringen Investitionen in die Stromnetze kenne ich seit Ende der 90er Jahre. Das Problem ist seitdem nicht kleiner geworden. In den Nullerjahren haben die Netzbetreiber eher noch weniger investiert, weil die Unternehmen mit der Trennung von Transport und Erzeugung, also dem Unbundling, beschäftigt waren. Man sieht diese Delle sehr deutlich in den Investitionsstatistiken aus dieser Zeit.

Wie dringlich ist der Handlungsbedarf?

Das ist nicht so einfach zu beantworten, unter anderem, weil viele Produkte im Feld immer noch die ersten ihrer Art sind. In manche Komponenten kann man hineinschauen und sie messen, da weiß man mehr über den Zustand. Bei anderen Komponenten kann man das nicht. Manche sind quasi über dem Verfallsdatum, funktionieren aber noch. Aber wie lange noch? Infrastruktur hat ein langes Gedächtnis, wie man sagt. Bei manchen Kabeln zum Beispiel ist es schwierig, überhaupt den Zustand zu bestimmen – ab einem bestimmten Punkt ändert sich die Funktionsfähigkeit jedoch schlagartig. Deshalb muss man mit der Erneuerung beginnen, wenn es noch nicht weh tut. Von den großen Investitionssummen müsste auf Verteilnetzebene etwa die Hälfte in die Erneuerung fließen. Jedes weitere Warten wird uns in der Zukunft viel Geld kosten.

Vor welchen technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen die Netzbetreiber?

Die Herausforderungen sind in der Tat vielfältig. Es ist vor allem die Synchronität der Anforderungen, die zu einer sehr anspruchsvollen Situation führt. Der gleichzeitige Anstieg der Investitionen wegen des Erneuerungsbedarfs und der gerade in den letzten Jahren noch weiter gesteigerten Transformationsgeschwindigkeit hat zu einem zunächst für alle unerwarteten Anstieg der Nachfrage nach Netzkomponenten geführt. Plötzlich waren die Lieferketten in aller Munde. Inzwischen, nach etwa zwei Jahren, hat sich dieser Teil der Situation gebessert. Die Hersteller haben in Fertigungskapazität investiert und führen das auch fort, und unsere Kunden stimmen sich langfristiger mit uns ab.

Aber es gibt einen weiteren wichtigen Engpass: den Mangel an Fachkräften, vor allem in der Projektarbeit der Netzbetreiber. Unsere Verbandsmitglieder berichten zunehmend davon, dass beispielsweise Transformatoren zum vereinbarten Zeitpunkt nicht abgenommen werden können, weil die Arbeiter fehlen, um sie zu installieren.

Immerhin müssen zwei fast verlorene Jahrzehnte aufgeholt werden.

So ist es, und noch etwas kommt hinzu: Eine Netzerneuerung bringt zunächst keine neuen oder zusätzlichen Einnahmen für die Netzbetreiber. Wenn es gut läuft, kann die Auslastung der Netze mittelfristig deutlich verbessert werden, einmal durch die angestrebte Elektrifizierung und auch durch bessere Steuerung von Einspeisung und Verbrauch. Aber wenn die Investitionen ohne Verbrauchssteigerung erfolgen, müssten die Netzentgelte deutlich steigen. Das würde viele Verbraucher überfordern. Schon heute klagt die Industrie über zu hohe Energiekosten. Ein effizienterer Um- und Ausbau könnte dagegen Kosten sparen.

Klar ist jedoch: Der Klimawandel wartet nicht. Allerdings sind die nationalen Ziele, aber auch die der EU, sehr auf den Ausbau der Erzeugung ausgerichtet. Derzeit hinkt der Verbrauch aber hinter der gewünschten Entwicklung her. Dies zu berücksichtigen, könnte etwas Tempo aus dem Ausbau nehmen. Dabei geht es um eine bessere Balance, nicht um eine Abschwächung der Ziele. Eine netzverträgliche Platzierung von Ökostromanlagen, die den Standort einpreist, könnte auch helfen. Das gibt es bisher nicht.

Welche Fortschritte haben wir beim Ausbau und der Modernisierung der Netze bereits gemacht?

Wir haben in den letzten Jahren eine deutliche Beschleunigung des Netzausbaus wahrgenommen. Es liegt in der Natur von Netzprojekten, dass die Planungszeit länger ist als die tatsächliche Bauzeit. Das verzerrt etwas die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, weil zunächst scheinbar nichts geschieht. Außerdem hat sich auch auf der Verteilnetzebene die Erkenntnis durchgesetzt, dass Überwachung und Steuerung nötig sind. Rückblickend waren die Jahre unter der alten Ampelregierung im Vergleich zu den Regierungen davor ein echter Turbo für den Umbau der Energieversorgung. Vieles wurde zügig und fokussiert angegangen, auch wenn das manchmal nur in Fachkreisen gesehen und anerkannt wird.

Wo liegt Ihrer Meinung nach das größte Potenzial, Kapazitäten der Stromleitungen zu erhöhen – braucht es mehr Ertüchtigung oder mehr Digitalisierung – oder beides?

Wir kommen um die Ertüchtigung der Stromnetze nicht herum, das ist ganz klar. Auch die Digitalisierung findet bereits statt und eine Software kann heute viel schneller entscheiden, was bei einer Störung oder einer wetterbedingt veränderten Situation zu tun ist. Früher wurde beispielsweise in den Stromnetzen ein erheblicher Teil der Kapazität für Störungen reserviert. So konnte eine Leitung im Notfall den Strom einer anderen Leitung aufnehmen, ohne dass Techniker eingreifen mussten. Da solche korrigierenden Eingriffe heute schneller möglich sind, braucht man weniger Reserve freizuhalten und gewinnt so Kapazität für den Normalbetrieb. Letztlich gibt es aber keine Patentlösung, da die Netze sehr unterschiedlich sind und immer lokal betrachtet werden müssen.

Welche Maßnahmen bringen den größten Effekt für eine Modernisierung?

Eine gern genutzte Maßnahme ist die dynamische Leitungsbelastung, weil bei kälteren Temperaturen eine stärkere Belastung der Trasse möglich ist als bei wärmeren Außentemperaturen. Mehrere tausend Kilometer werden in Deutschland heute schon so betrieben. Weiteres Potential liegt in der besseren Auslastung der vorhandenen Netze. Heute ist die Auslastung gerade im Verteilnetz nicht sonderlich hoch, im Schnitt liegt sie unter 25 Prozent. Das kommt daher, dass sie auf die selten auftretende Spitzenlast ausgelegt waren. Für die Verbraucher hatte das den angenehmen Effekt, dass sie jederzeit bedient werden konnten.

Heute ist der Baukasten für Netzbetreiber insgesamt größer, so dass höhere Netzauslastung ohne Komforteinbußen für die Verbraucher vorstellbar werden. Beispielsweise können Batteriespeicher, deren Kosten immer weiter sinken, Netzspitzen kappen und die Auslastung des Netzes insgesamt verbessern. Genau das ist zum Beispiel die Idee hinter einem Netzbooster.

Wie resilient sind unsere Stromnetze?

Die Versorgungssicherheit mit Strom ist in Europa sehr hoch. Daran hat auch der wachsende Anteil von Ökostrom im Netz nichts geändert. Resilienz bezeichnet in diesem Zusammenhang jedoch die Fähigkeit eines Systems, mit sehr unvorhergesehenen Ereignissen umzugehen. Dazu gehört zum Beispiel das Hochwasser im Ahrtal im Sommer 2021. Wenn, wie im Ahrtal, Schaltanlagen im Tal stehen, hat man kein resilientes System. Beim Wiederaufbau hat man diese Schaltanlagen entsprechend höher installiert – und damit die Versorgung resilienter gemacht. Diese Überlegungen muss man in Zukunft vor einer Katastrophe durchspielen und überlegen, wie man ein System noch besser schützen kann.

Welche Länder verfügen bereits über ein vergleichsweise modernes Stromnetz?

Italien hat sehr früh flächendeckend Smart Meter eingeführt und definiert, was sie von dieser Infrastruktur erwarten. Sie sind über das eigentliche Metering hinausgegangen, um effizienter zu messen und abzurechnen. In Großbritannien und Irland hat man bereits Märkte für kurzfristige Flexibilität eingeführt. Das ist eine logische Konsequenz daraus, dass diese Länder als elektrische Inseln einen höheren Handlungsdruck bei der Frequenzhaltung haben als der europäische Kontinent.

Aber auch der kontinentale Strommarkt in Europa hat sehr fortschrittliche Elemente. So hat man in den vergangenen Jahren den Zeitpunkt, zu dem der Markt geschlossen wird, immer näher an den Betrieb gelegt. Heute operiert man schon fast in Echtzeit. So kann kurzfristig auf Schwankungen in der Ökostromerzeugung reagiert werden – das spart viel Geld. Europa ist hier weltweit führend. Generell kann man sagen, dass es an vielen Stellen der Welt fortschrittliche Lösungen gibt. Wo sie sich wann entwickelt haben, hängt sehr stark davon ab, welche Probleme der Wandel mit sich gebracht hat. Das ist für alle eine große Chance, voneinander zu lernen.

Das Interview führte Niels H. Petersen.

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