Komplexität der Lastflüsse im Verteilnetz braucht selbstlernende Algorithme.
Angesichts der steigenden Anzahl dezentraler und zugleich fluktuierender Stromerzeuger – speziell Photovoltaikanlagen – wird die Stabilisierung der Verteilnetze immer anspruchsvoller. Die zunehmende Menge an Zustandsdaten aus dem Netz soll deswegen vermehrt durch Künstliche Intelligenz ausgewertet werden, um Erzeuger und Verbraucher optimal zu steuern, somit Netzstabilität zu schaffen und Engpässe aufzulösen.
Es ist ein langsames Herantasten. An den unterschiedlichsten Stellen versuchen sich Netzbetreiber derzeit am Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), um das Stromsystem vor allem auf Ebene des Verteilnetzes effizienter und sichererer zu gestalten. Das wird auch zunehmend nötig sein, denn mit der wachsenden dezentralen Stromerzeugung werden die Lastflüsse immer komplexer.
Ein entsprechendes Forschungsprojekt des Überlinger Stadtwerks am See ist inzwischen abgeschlossen. Zusammen mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG) in Konstanz, dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) und dem International Solar Energy Research Center Konstanz wurden erste Prototypen von Niederspannungsreglern auf der Basis von KI entwickelt und getestet.
„Wir haben vorher schon mit Algorithmen ohne KI gearbeitet, deren Ziel ähnlich war“, sagt Jan Etzel, Leiter Stromnetzbetrieb beim Stadtwerk am See. Nun aber versuche man, mit der KI das System weiter zu optimieren. Voraussetzung, um die neuartigen Algorithmen überhaupt einsetzen zu können, sei allerdings der massive Ausbau der Messtechnik im Niederspannungsnetz gewesen. Im Rahmen des Projekts haben man mit Daten aus einem Friedrichshafener Gewerbegebiet „das Stromnetz der Zukunft konzipiert und eine Netz-Regelung erfolgreich simuliert“, sagt Jan Etzel.
Bislang gibt es zumeist noch einen Punkt, der die Möglichkeiten der KI limitiert: Nicht nur beim baden-württembergischen Stadtwerk am See, sondern in weiten Teilen des Landes wissen die Verteilnetzbetreiber oft sehr wenig über die Zustände in den einzelnen Strängen ihres Netzes. Vor dem Einsatz ausgefeilter Algorithmen, muss also oft die Messinfrastruktur entsprechend erweitert werden. Denn ohne Messdaten kann keine KI agieren.
Sind die Echtzeitdaten verfügbar, könne „das Herzstück eines intelligenten Netzes“, ein smarter Regler, der von KI gesteuert wird, zum Einsatz kommen, erklärt das Stadtwerk am See. Der Regler greife auf alle relevanten Informationen aus dem Niederspannungsnetz zurück, etwa auf aktuelle Messwerte von Trafostationen, Verbrauchern und Erzeugern. Darüber hinaus kennt er Jahresverbräuche, Wetterdaten, Prognosen und vieles mehr.
So sei die KI in der Lage die Datenflut zu analysieren und umgehend die richtigen Entscheidungen zu treffen, sagt Jan Etzel. Denn die Lastflüsse sind inzwischen oft so multidimensional, dass sie von Menschen nicht mehr zu überblicken, geschweige denn optimal zu steuern sind. Die KI greift in diesem Fall selbständig in das System ein, glättet Lastspitzen und vermeidet Netzengpässe, in dem sie notfalls Erzeugungsanlagen abregelt. Und da die Software auch selbständig aus vergangenen Ereignissen und Fehlern lernt, wird sie auf Basis von immer ausgefeilteren Prognosen immer besser einschreiten können, bevor kritische Situationen im Netz auftreten.
Den aktuellen Sachstand zum Thema KI in der Stromwirtschaft zeigte jüngst die Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg auf, die im Rahmen ihrer Smart Grids-Gespräche 2024 unter dem Titel „Künstliche Intelligenz im Netzbetrieb“ nach Konstanz einlud. KI sei „mehr als ein digitaler Zwilling“, stellt in diesem Zusammenhang Arno Ritzenthaler von der Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg klar. Vielmehr gehe es um die Stabilisierung der Netze und auch um die Vermeidung von Netzausbau.
Professor Gunnar Schubert von der HTWG Konstanz bringt unterdessen den Begriff der Digitainability ins Spiel – eine Wortkombination aus Digitalisierung und Nachhaltigkeit (Sustainability). Denn es sind die erneuerbaren Energien, die diese Intelligenz und die Digitalisierung im Netz einfordern. Bei 60 Gigawatt Photovoltaik, die auf der Mittel- oder Niederspannungsebene einspeisen, ergäben sich große Herausforderungen, sagt Schubert. Damit tue sich auch ein beachtliches Forschungsgebiet auf, dessen Ziel es ist, potenzielle Störungen zu prognostizieren.
Manuela Linke, Leiterin des Ende 2023 abgeschlossenen Forschungsprojektes AI4Grids, an der HTWG Konstanz stellt die Komplexität des künftigen Stromsystems dar: Im Jahr 2045 werde es laut Prognosen 35 Millionen Elektrofahrzeuge in Deutschland geben, die Stromnachfrage werde sich bis dahin mindestens verdoppeln. Die Photovoltaik werde zugleich auf mehr als 400 Gigawatt ausgebaut sein, die Windkraft auf mehr als 300 Gigawatt.
Diese fluktuierenden Mengen ließen sich nur durch ein intelligentes Netzmanagement beherrschen, wozu die Steuerung der Erzeugung und des Verbrauchs, sowie steuernde Eingriffe an den Ortsnetztrafos gehören. Dort werden mancherorts sogenannte Stufensteller installiert, mit denen das Umspannverhältnis der elektrischen Anlage variiert werden kann – mit dem Ziel, eine eventuell vorhandene Überspannung in einem Netzstrang nicht auf die nächste Spannungsebene durchschlagen zu lassen.
Es fehlen oft die Zustandsdaten aus dem Verteilnetz
Was sich in der Theorie so einfach anhört, ist in der Praxis oft schwieriger. Auch Manuela Linke verweist auf die fehlenden Zustandsdaten aus dem Netz, zu denen valide Informationen zu Betriebszuständen in den Ortsnetzstationen gehören. Sobald ausreichend Daten und Eingriffsmöglichkeiten gegeben sind, könne die KI diverse Aufgaben erledigen. Sie nehme dann vor allem Lastflussberechnungen auf Basis der Lastprognose und der Erzeugungsprognose der Photovoltaik vor. Damit diene die KI der Netzstabilitätsplanung und auch der Fehlererkennung. Sie ermögliche ferner eine zeitreihen-gestützte Netzplanung – sie könne also auch aufzeigen, wo Netzausbauten nötig werden.
Die KI könne auf unterschiedlichen Algorithmen aufgebaut sein, erklärt Manuela Linke. Es gebe solche, die bei Änderungen der Netztopologie neuen Trainingsbedarf erfordern, aber auch andere, die problemlos auf eine neue Topologie anwendbar sind. In der Praxis aber ist oft gar nicht die Qualität der Algorithmen die größte Herausforderung, denen der Netzbetrieb ausgesetzt ist. Vielmehr berge neben der Qualität der Datenerfassung auch das Thema IT-Sicherheit Herausforderungen – und schließlich fehle auch in der Stromwirtschaft und ihrer IT oft das nötige Fachpersonal, sagt die Wissenschaftlerin.
Dass aber auch die Abläufe in der Stromwirtschaft an die sich verändernde Netzsituation angepasst werden müssen, merkt Jann Binder vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) an. Denn heute arbeitet die Stromwirtschaft bei Haushaltskunden noch immer mit dem traditionellen Modell der Standardlastprofile. Man geht also stur davon aus, dass die Haushalte im Mittel stets einen spezifischen Lastgang im Tagesverlauf haben. Haushalte mit Photovoltaik und Eigenverbrauch und zunehmend auch Batterien haben jedoch längst stark abweichende Lastgänge. „Das heutige Modell produziert große Fehler“, sagt daher Jann Binder. Deswegen seien neue Lastprofile nötig, bei denen die KI eine Rolle spielen könne.
Ein entsprechendes Forschungsprojekt gibt es am Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE). Denn angesichts der wachsenden Verbreitung von Photovoltaik-Anlagen, Speichern, Wärmepumpen und Wallboxen kämen die Standardlastprofile an ihre Grenzen, erklärt das IEE. „Hier setzt unser Forschungsprojekt an: Unsere KI-gestützten Verfahren generieren die nötige Datenbasis für zahlreiche Optimierungs- und Prognoseaufgaben“, sagt Dominik Jost, Projektleiter am IEE.
Dass Unternehmen der Stromwirtschaft die KI aber nicht nur für die Steuerung des Netzes sinnvoll einsetzen können, zeigt Karen auf dem Horst, die beim Verteilnetzbetreiber Netze BW das Projekt GenAI leitet. In dem Infrastrukturunternehmen helfe KI nämlich längst den Monteuren im Alltag. Wenn die Handwerker unterwegs sind und die installierte Technik per Bild dokumentieren, gewinne zum Beispiel eine Bilderkennung daraus wertvolle Informationen. So lasse sich etwa anhand der genormten Farben von Isolatoren automatisch erkennen, welches Isoliermittel am Standort zum Einsatz kommt.
Auch Typenschilder würden nur abfotografiert, damit die darauf markierten technischen Kenndaten automatisch ausgelesen und in Datenbanken abgelegt werden können. Zudem können die Mitarbeiter, wenn sie technische Betriebsmittel warten und instand setzen, erforderliche Informationen aus eigenen Datenbanken abrufen, in denen diese bedarfsgerecht per KI aufbereitet wurden. Auch beantwortet die KI konkret gestellte Fragen.
Neue Dokumente, die Monteure im Feld generieren, etwa Fotos oder Protokolle, werden direkt in die Datenbank eingepflegt. „Wir nutzen dabei aber nur eigene Dokumente und vermeiden so das Halluzinieren der KI“, sagt Projektleiterin Karen auf dem Horst. Denn das Halluzinieren ist bei der generativen KI – wie auch Nutzer von Chatbots wie etwa ChatGPT erleben müssen – noch ein Problem. Gelegentlich verbreiten die Systeme Fehlinformationen. Besonders in einem systemrelevanten Wirtschaftsbereich, wie der Stromversorgung, ist das unbedingt zu vermeiden.